Geschichte und Kontext

Geographie eines nuklearisierten Raumes

Bemerkungen zu dieser Karte:

  • die endgültigen Installationen werden viel mehr Platz einnehmen
  • das Endlager Gondrecourt ist bereits gebaut und weitere Bauten sind geplant
  • einige Einrichtungen sind nicht dargestellt: das Areva-Archiv in Houdelaincourt; das EDF-Archiv im Andrakomplex…

 

LEGENDE:

DAS ANDRA-LABOR

1998 wurden die Departements Haute-Marne und Meuse für den Bau eines „unterirdischen geologischen Forschungslabors“ ausgewählt, das von der Andra (Nationale Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle) geleitet wird. Andere Départements waren angepeilt worden, wurden aber wegen zu viel Widerstand wieder fallengelassen. Der Bau des Labors beginnt in Bure im Jahr 2000. Petitionen und Demonstrationen gehen derweil unvermindert weiter (1). Im Jahr 2006 genehmigt der Staat die unterirdische Lagerung in Bure und beauftragt die Andra mit der Planung und Umsetzung des Cigéo-Projekts für 2025. Das Projekt hat bereits mehrere Jahre Verspätung. Heute ist das Andra-Labor eine echte Kleinstadt in der Landschaft von Meuse und Haue Marne, die seit Sommer 2017 von einer Schwadron mobiler Gendarmen bewacht wird, die ständig im Laborkomplex stationiert sind. Der Laborkoplex enthält einen Brunnen mit 2 km Teststollen in 500m Tiefe. Zu dieser kleinen Stadt gehören auch ein Technologiezentrum, ein Hotel-Restaurant, ein Lebensmittelgeschäft, eine Tankstelle und das EDF-Archiv (2).
Erfahrungsbericht von Jean-Pierre, Bauer im Kampf gegen Cigéo (April 2017):
„Es war doch alles undurchsichtig: Sie sagten nicht, was sie tun wollten… Also hatten sie diese geniale Idee mit dem Labor: zu sagen „wir suchen, aber wir lagern nicht“. Von da an wurden sie von den beiden Departements, deren Parlamenten und sogar auf lokaler Ebene von den Gemeinden mit offenen Armen empfangen, denn es war an finanzielle Unterstützung gekoppelt. Dann erwarben sie 100 ha, wo sich das heutige Labor befindet. „ (Quelle auf Französisch)

(1) Siehe Film Tous n’ont pas dit oui von Alien Riès (2013).
(2) EDF= Electricité de France, staatlicher Stromversorger, lange in Monopolstellung

DAS HAUS DES WIDERSTANDS GEGEN DAS ATOMMÜLLLAGER

Im Jahr 2004 gründeten Atomkraftgegner aus Frankreich und Deutschland den Verein Bure Zone Libre (BZL). Im folgenden Jahr kauften sie zusammen mit dem Netzwerk Sortir Du Nucléaire ein altes Bauernhaus im Herzen von Bure, um es zu renovieren. Dies sollte das „Haus des Widerstands gegen das Atommülllager“ werden. Das Haus ist ein Ort für Gegeninformationen über Cigéo und für die Organisation des Kampfes. Heute ist das Haus ganzjährig bewohnt und für alle zugänglich.
Um zu zeigen, dass das Gebiet keineswegs menschenleer ist, im Gegensatz zu dem, was die Andra uns glauben machen möchte, und um ihr Steine in den Weg zu legen, wurden rund um Bure ein Dutzend weiterer kollektiver Orte, einige privat, andere eher gemeinschaftlich, gekauft oder gemietet, wie zum Beispiel l’Affranchie (=die Befreite) in Mandres-en-Barrois (ein Ort ohne fließendes Wasser und Strom. Andra unternimmt derzeit rechtliche Schritte, um zu versuchen, das Gebäude wiederzuerlangen.

DER WALD „ BOIS LEJUC“

Im Projekt Cigéo nimmt der Wald Bois Lejuc einen wichtigen Stellenwert ein: Er soll nach der Räumung zur Aufnahme der Schächte dienen, welche die mit radioaktiven Abfällen gefüllten unterirdischen Stollen „belüften“ sollen. Im Juli 2015 stimmt der Gemeinderat von Mandres-en-Barrois für den Austausch des Gemeindewaldes des Bois Lejuc gegen den Wald Bois de la Caisse, der im Besitz der Andra ist, trotz lokaler Proteste. Nach einer Klage wegen eines Interessenkonflikts und einer nicht erklärten geheimen Abstimmung wird dieses Votum im Mai 2017 erneuert.
Im Sommer 2016 ist die Andra im Begriff, ohne vorherige Genehmigung, also illegal, Rodungsarbeiten im Bois Lejuc durchzuführen. Das „endlose Picknick“ vom 19. Juni 2016 markiert den Beginn der ersten Besetzung. Die Zäune der Andra werden bei dieser Gelegenheit umgestoßen. Nach 3 Wochen der Besetzung wird der Wald am 7. Juli 2016 um 6 Uhr morgens geräumt. Um den Zugang zum Bois Lejuc zu verhindern, errichtet die Andra eine Grenzmauer aus Beton, weiterhin ohne Baugenehmigung. Sie wird später für diese illegalen Arbeiten verurteilt werden. Am 15. August 2016 startet eine Demonstration, und als klar wird, dass im Wald keine Gendarmen anwesend sind, beschließen die DemontrantInnen, die Mauer einzureißen. In den folgenden Wochen wird der Wald wiederbesetzt. Um diese Besetzung juristisch zu abzusichern, wird in einem Gerichtsverfahren das rechtliche Eigentum der Andra am Bois Lejuc in Frage gestellt. Am 22. Februar 2018 um 6 Uhr morgens wird der Bois Lejuc erneut geräumt. Am selben Tag wird das Haus des Widerstands von der Gendarmerie angegriffen. Eine Wiederbesetzung wird im Juli 2019 schon nach 3 Tagen geräumt. Seitdem ist der Zugang zum Wald verboten und wird von Kameras und Gendarmeriepatrouillen überwacht.

DER EHEMALIGE BAHNHOF VON LUMÉVILLE-EN-ORNOIS

Der ehemalige Bahnhof von Luméville (Ancienne Gare de Luméville) wurde 2004 von den CIGÉO-Gegnern gekauft. Es liegt an der Trasse der Bahnlinie, die Andra für den Transport des Atommülls zu den unterirdischen Lagerstätten ausbauen will. Zahlreiche Gemeinden in der Nähe von CIGÉO wären von der Durchfahrt der Eisenbahn- und Straßenkonvois direkt betroffen: Nançois-sur-Ornain, Velaines, Ligny-en-Barrois, Givrauval, Longeaux, Menaucourt, Nantois, Naix-aux-Forges, Saint-Amand-sur-Ornain, Tréveray, Laneuville, Saint-Joire, Demange-aux-Eaux, Baudignecourt, Houdelaincourt, Abainville, Gondrecourt-le-Château, Horville-en-Ornois, Luméville-en-Ornois, Chassey-Beaupré, Cirfontaines-en-Ornois, Guillaumé, Saudron.
Wenn die Gemeinnützigkeitserklärung (Déclaration d’Utilité Publique, DUP) bestätigt wird, kann die Andra von den Methoden der Bestechung und des Verhandelns, zu einer brutaleren Verfahrensweise übergehen, um die begehrten Grundstücke zu bekommen. Der alte Bahnhof von Luméville und andere Grundstücke sind dann von der Enteignung bedroht. Zunächst, um die Straßen verkehrstechnisch zu entlasten und den Transport von Maschinen und Materialien zur Cigéo-Baustelle zu ermöglichen, und schließlich, um 100 Jahre lang jede Woche zwei CASTORzüge (1) durchfahren zu lassen…
An diesem Ort des Kampfes wurden schon viele Veranstaltungen organisiert: das antiautoritäre und antikapitalistische VMC-Camp im Jahr 2015, Musikfestivals, Antiknast-Treffen (das letzte im März 2020), queere Veranstaltungen, partizipative Workcamps, Filmvorführungen… Auf dem Gelände des Bahnhofs befindet sich auch die Dauerausstellung Trainstopping zu Blockade- und Sabotagepraktiken des Schienenverkehrs im Kontext der Anti-Atom-Bewegung.
(1) CASTOR = Cask for storage and transport of radioactive material

Weitere Informationen: Anwohnerleitfaden: „Radioaktive Konvois vor unserer Haustür? (auf Französisch)

Trainstopping-Ausstellung im Bahnhof (auf Französisch)

FRONCLES (42 km vom Labor entfernt)

In Froncles ist die Firma POMA bereits für Cigéo tätig. Um die radioaktiven Abfallpakete von der Oberfläche in das unterirdische Lager 500 Meter unter der Erde zu transportieren, plant die Andra, einen 12 km langen Schacht zu graben. Im Jahr 2014 erhält die im Département Isère ansässige POMA den Auftrag und unterzeichnet mit Andra einen Vertrag über 68 Millionen Euro für den Bau einer Seilbahn. Im Jahr 2019 zieht POMA nach Froncles in Haute-Marne und beginnt mit dem Bau eines maßstabsgetreuen Modells der Seilbahn. Die Versuche haben bereits begonnen, nachdem das Projekt im Februar 2021 eingeweiht wurde. Gleichzeitig wird ein Aktionsaufruf gegen POMA gestartet. Dieser Aufruf ist Teil des Aktionsplans gegen die Cigéo-Monster, die Subunternehmer des Projektes.

JOINVILLE (22 km vom Labor entfernt)

Das Cigéo-Projekt setzt sich zusätzlich zum Labor aus einer Vielzahl von Nebenprojekten zusammen, die alle auf Widerstand stoßen. Vor kurzem wurde angesichts des Widerstands der Anwohner das Projekt für eine Wiederaufbereitungsanlage für schwach radioaktive Abfälle in Gudmont-Villiers bei Derichebourg zurückgezogen. Seit fast vier Jahren löst Unitech, ein Wäscherei-Projekt für Atomkleidung in Joinville, große Demonstrationen aus. Andererseits gelang es EDF, in Velaines unauffällig eine Plattform zur Lagerung von AKW-Teilstücken zu installieren. Orano und EDF haben außerdem Archivzentren in Bure und Houdelaincourt eingerichtet. Der CEA verfügt auch über ein neues Gebäude in Bure-Saudron, seit sich starke Widerstand gegen Syndièse, ein Projekt für eine Biokraftstoffanlage geregt hat.
Um das Cigéo-Projekt besser zu verkaufen und sicherzustellen, dass die Bewohner es unterstützen, müssen die Behörden und die Atomindustrie zeigen, dass sie der Region nicht schaden, sondern daran arbeiten, sie zu „revitalisieren“, sie finanziell zu bereichern und Arbeitsplätze zu schaffen. In diesem Sinne wurden Berufslehrgänge für die Atomindustrie eröffnet, deren Facetten so vielfältig sind wie die Projekte in den Regionen von Meuse und Haute-Marne. So verheißen die Cigéo- Förderer den lokalen Unternehmern und Mandatsträgern einen ganzen Atomindustrie-Cluster der in Meuse und Haute-Marne entstehen soll.

FINANZIERUNG DES GIP

Im Jahr 2000 wurden zwei „öffentliche Interessenverbände“ (Groupements d’intérêt public) gegründet: einer für die Meuse und einer für die Haute-Marne. Das erklärte Ziel ist die Entwicklung einer Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Behörden und/oder privaten Partnern, um Ziele von gemeinsamem Interesse zu verfolgen. Ursprünglich auf 18 Millionen Euro pro Jahr festgelegt, belaufen sich die Zuweisungen der GIPs im Jahr 2019 auf 30 Millionen Euro pro Jahr fund pro Departement. Unterstützt von den Produzenten des Atommülls (EDF, CEA und Areva-Orano), sollen die GIPs die lokale Industrie ankurbeln. Diese Mittel sind in der Tat zum Teil „für die Finanzierung von Maßnahmen und Ausrüstungen bestimmt, welche die Umsetzung des [Cigéo]-Projekts in den Ortsbereichen fördern sollen“, so der Tätigkeitsbericht 2016 von EDF und dem Andra-Labor. Subventionsberieselung von Gemeinden, Betrieben und der Bevölkerung, um die gesellschaftliche Akzeptanz von Atomkraft und Cigéo zu steigern: schon im Vorfeld eines Großprojektes und in diesem Ausmass ein Novum!
Konkret profitierten diese GIPs zum Beispiel von der Gründung des Generalarchivs von Areva in Houdelaincourt (Meuse) im Jahr 2007. Beihilfen wurden auch einer EDF-Plattform zur Lagerung von Ersatzteilen für die 19 Kraftwerke in Velaines (Meuse) und einer Wartungsbasis für Kraftwerkausrüstung in Saint-Dizier (Haute-Marne) gewährt. In dieser EDF-Einheit werden Komponenten generalüberholt, die in den Kraftwerken Verwendung finden. Ein vielversprechender Markt zur Zeit der landesweiten nuklearen „Großsanierung“, welche die Laufzeit der AKWs verlängern soll. Wir haben nicht alle die gleiche Definition dessen, was im öffentlichen Interesse liegt und was nicht…

LANDGRABBING

Über die Safer (Gesellschaften für die Bewirtschaftung von Grundstücken und ländliche Niederlassung) hat sich Andra nach und nach mehr als 3.000 Hektar Land gekrallt, darunter 1.000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche, damit zahlreiche Bauern und Bäuerinnen schikaniert, den Preis für Land erhöht und landwirtschaftliche Niederlassungen erschwert.
Die agroindustrielle Verwüstung dieses Gebietes begünstigt die Entwicklung der Atommülldeponie. Die lokalen LandwirtInnen sind allein, abhängig vom Zwischenhandel, überschuldet. Sie haben ihre Autonomie verloren, und der Protest wird immer schwieriger. Um sich die Verhandlungen zu erleichtern, fördert Andra die Umstrukturierungen und Erweiterungen.
Seit seiner Gründung hat Andra den Preis pro Hektar um 5000 € erhöht (Informationen vom April 2017)! Kurzfristig ist dies ein Geschenk des Himmels für die LandwirtInnen, die zu einem sehr guten Preis verkaufen können und im Gegenzug prekäre Pachtverträge auf anderen Ländereien erhalten, um ihre Tätigkeit fortzusetzen. Im Jahr 2016 wurden mehr als 300 Hektar aus der landwirtschaftlichen Nutzung genommen und damit ihres Wertes der Nahrungsproduktion beraubt.
„Die Notare sind verpflichtet, die Safer zu informieren, und sobald die Akten auf dem Schreibtisch der Safer liegen, hat die Andra systematisch Kenntnis davon und greift zu, um alles zu erwerben, was sich bewegt. Einschließlich Wälder, nicht unbedingt das, was sie brauchen. […] Es hat keine Enteignung stattgefunden, wir sind immer noch auf gütlichem Wege, aber immer noch mit Druck und Einschüchterung. „ (Interview mit Jean-Pierre, Bauer im Kampf gegen Cigéo, April 2017)
Trotz alledem setzen sich Bäuerinnen und Bauern wie Jean-Pierre für den Kampf gegen Cigéo ein. Sein Prozess (im Laufe des Jahres 2017), wegen Komplizenschaft bei der ersten Besetzung des Bois Lejuc war vor allem eine Strategie der Einschüchterung gegen die EinwohnerInnen und vor allem gegen die Bauern und Bäuerinnen, die Cigéo hätten verhindern wollen.
Quellen:

12. September, alle in Bar-le-Duc beim Prozess von Jean-Pierre und gegen das neue Arbeitsgesetz (auf Französisch]
Vom 11. bis 13. November in Bure – Landwirtschaftliche Barrikaden gegen die Atommülldeponie und Treffen „Reclaim the Fields“! [auf Französisch]

Chronologie der Kämpfe

1) 1987-2000: Wohin mit der Deponie, die niemand will?

1987 werden von der Regierung willkürlich vier Standorte für die Endlagerung radioaktiver Abfälle ausgewählt: in den Departements Ain, Aisne, Maine-et-Loire und Deux-Sèvres. In den folgenden Jahren bringt die Gründung einer nationalen Koordination gegen die Endlagerung und Auseinandersetzungen mit den mobilen Gendarmen das Projekt der vier Standorte zum Scheitern. Infolge dieser Schwierigkeiten wird 1991 auf Initiative des Abgeordneten Christian Bataille (Parti Socialiste) ein Gesetz verabschiedet, das den Rahmen für die finanzielle Entschädigung festlegt, die heute an die Départements Meuse und Haute-Marne fließt (GIP), und dabei die Idee eines „unterirdischen Labors“ einführt (akzeptabler als eine Deponie, obwohl letztendlich Ziel ist, daraus eine solche zu machen). Es werden 5 Projekte ausgewählt: in Meuse, Haute-Marne, Vienne und im Gard. Zu diesem Zeitpunkt gehört Bure übrigens nicht zu den neu ausgewählten Standorten. Dies lässt den Verdacht zu, dass der Ort im Nachhinein, nicht aus geologischen, sondern aus strategischen Gründen gewählt wurde: wenig Menschen, daher diesmal wenig Widerstand… Einige Jahre später, 1998, wurden die Departements Haute-Marne und Meuse für den Bau eines „unterirdischen Labors für geologische Forschung“ ausgewählt, das von der Andra geleitet wird. Der Bau des Labors in Bure beginnt in den Jahren 1999-2000.

2) 2000-2014: Die ersten Jahre in Bure

In den Jahren 2000-2001 versammeln sich 2.000 Menschen in Bure in einem Lager gegenüber der Baustelle des Labors. Das Maison de la Résistance de Bure wurde 2004 von GegnerInnen kollektiv gekauft. Die Petitionen und Demonstrationen lassen in diesen Jahren nicht nach [Anmerkung: wie im Film Tous n’ont pas dit oui, mit deutschen Untertiteln, von Alain Riès (2013) dokumentiert]. Im November 2004 stirbt Sébastien, ein 22-jähriger Anti-Atomkraft-Aktivist, in Avricourt, Lothringen, überfahren von der Lokomotive eines Atommüllkonvois nach Deutschland (Quelle). Der Staat bestätigt dennoch durch das Gesetz vom 28. Juni 2006 die unterirdischen Endlagerung in Bure und beauftragt die Andra mit der Planung und Realisierung des Cigéo-Projekts für das Jahr 2025 (dass das Projekt hinkt also bereits mehrere Jahre hinter dem Zeitplan her). Da die Beteiligung der GegnerInnen an der öffentlichen Debatte 2005 von der Andra missachtet und geringschätzig übergangen worden war, boykottieren sie die erneute Konsultationsrunde von 2013.

3) 2014-2015: Bure ist nicht nur ein lokales Problem!

Im August 2013 werden das „Petit festival contre la grande poubelle nucléaire“ und eine „Assemblée Grand T’Est“ ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, die lokale Mobilisierung zu stärken, aber auch, sie auf ganz Frankreich und seine Nachbarländer auszuweiten, denn die Bure ist kein Problem der Meuse oder der Haute-Marne: Sie betrifft uns alle in allen Landesteilen, in Europa und darüber hinaus! Im Jahr 2014 wurde ein Aufruf zu dezentralen Aktionen gestartet: „Bure 365: Ein Jahr Aktionen gegen Cigéo, die Atomindustrie und ihre Welt“.
Der Kampf geht von Bure aus auf Infotour, u.a. nach Montabot und Notre-Dame-des-Landes. Nach mehreren Festivals bei Bure laden sich die Antinuks am 5. und 6. September 2014 nach Nancy ein, um Cigéo in einer partizipativen und selbstverwalteten Versammlung Nukoff! zu sagen. Im Juli 2015 stimmt der Gemeinderat von Mandres-en-Barrois für den Austausch des Gemeindewaldes Bois Lejuc) gegen den der Andra gehörenden Wald Bois de la Caisse, trotz der mehrheitlichen Ablehnung durch die EinwohnerInnen in einer vorherigen Befragung. Ein Drittel der DorfbewohnerInnen unterzeichnet eine Petition gegen diese Entscheidung, und es wird Einspruch eingelegt (nach einer Klage wegen Interessenkonflikt und nicht deklarierter geheimer Abstimmung wird im Mai 2017 erneut für den Austausch vom Bois Lejuc gestimmt). Diese Entscheidung ermöglicht dem Projekt, vom Laborstadium zum Erwerb geeigneten Landes überzugehen, obwohl Cigéo noch nicht von der DAC [Demande d‘Autorisation de Création / Anfrage zur Erlaubniss der Erschaffung] deklariert ist. Dies löst eine Intensivierung des Kampfes vor Ort aus. Im folgenden Monat versammeln sich 1.500 Menschen am alten Bahnhof von Luméville in einem internationalen antiautoritären und antikapitalistischen VMC Camp (Vladimir, Martine & Co., Organisierungskollektiv, zu Ehren des unfreiwilligen Kamaraden, der uns des Total-Bosses entledigt hat)
Quellen:

Nukoff! 2014 (Automedia, 10 min)
• Archive des damaligen Kampfes: nocigeo.noblogs.org ; vmc.bureburebure.info

4) 2016-2017: Besetzung des Lejuc-Waldes und bäuerlicher Widerstand

Im Sommer 2016 ist Andra im Begriff, Rodungsarbeiten im Bois Lejuc in Angriff zu nehmen, und das ohne vorherige Genehmigung. „Das unendliche Picknick“ vom 19. Juni 2016 markiert den Beginn der ersten Besetzung. Bei dieser Gelegenheit werden die Zäune von Andra umgestoßen. Nach 3 Wochen der Besetzung wird der Wald am 7. Juli 2016 um 6 Uhr morgens geräumt. Um den Zugang zum Bois Lejuc zu verhindern, errichtet die Andra eine Umfassungsmauer aus Beton, ebenfalls ohne Baugenehmigung. Nachdem die Andra für diese illegalen Arbeiten verurteilt wurde, startet am 15. August 2016 eine Demonstration, um diese Mauer abzureißen. In den darauffolgenden Wochen ist der Wald bis Februar 2018 wieder besetzt.
In diesen Jahren werden verschiedene landwirtschaftliche Initiativen ergriffen, vor allem durch das Kollektiv Terres de Bure: wie die Kartoffelsetzlinge, die 2015 auf den von Andra brachliegenden Feldern gepflanzt wurden; der Hektar Getreide, der im November 2015 unter den Fenstern des Labors gesät wurde; oder die 500 m2 Kartoffeln, die im April 2016 auf einem Grundstück gepflanzt wurden, das Andra gehört; und viele andere Projekte die bis heute andauern.

5) 2017-2019: Verschärfte Repressionsmaßnahmen gegen die Oppositionellen

Wenn auch einige KameradInnen tatsächlich überwacht, registriert, mit Geldstrafen und Aufenthaltsverboten belegt werden usw., gibt es vorerst keinen massiven Polizeieinsatz in der Größenordnung der Bewegung. Im Juni 2017 wird im Rahmen einer Aktionswoche das Hotel-Restaurant der Andra blitzartig verwüstet, was die Gelegenheit bietet, den Atomwiderstand als „kriminelle Vereinigung“ anzuprangern, die zur „kriminellen Brandstiftung“, wenn nicht gar zum Mord entschlossen sei. Die Militarisierung des Gebietes intensiviert sich in den folgenden Wochen. Am 4. Juli wird eine nationale Fahndungsstelle gegründet, die kriminelle Handlungen von GegnerInnen des Cigéo-Projekts untersuchen soll: die Spezialeinheit Cellule Bure.
Ein neuer Schritt in Sachen Repression erfolgt dann während der Demonstration vom 15. August 2017. Die Botschaft ist klar: sofortige und kompromisslose Niederschlagung. Dieser Tag der Mobilisierung endet mit vielen Verletzten, von denen einer bei der Explosion einer GLI-F4-Granate fast seinen Fuß verliert. Dann kommt der 20. September 2017 und seine fünf gleichzeitigen Razzien. Von diesem Zeitpunkt an werden viele Menschen in ganz Europa ihre Solidarität mit den Gegnern vor Ort kundtun und vielerorts lokale Unterstützungskomitees bilden. Am 22. Februar 2018 um 6 Uhr morgens, einen Monat nach der Ankündigung der Aufgabe des Flughafens von Notre-Dame des Landes und nach der berühmten Rede „Es wird keine ZAD (1) mehr in Frankreich geben“, gehen fast 500 mobile Gendarmen zur Räumung des Bois Lejuc mit Zerstörung aller Hütten über.
(1) ZAD: „zu verteidigende Zone“: spezifische Form des Widerstandes gegen nutzlose und gefährliche Großprojekte in Form von gemeinschaftlicher Landbesetzung mit Selbstverwaltung, Entwicklung emanzipierender kollektiver Lebensformen etc.
Sie brechen auch brutal in das Haus des Widerstands ein und verhafteten nacheinander alle InsassInnen. Als Ergebnis dieser Polizeieinsätze werden drei Personen in Gewahrsam genommen und zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Zwischen Februar und Juni 2018 werden die Straßen- und Fußgängerkontrollen in der Gegend zum Dauerzustand, oft gefolgt von Aufnahme der Personalien, Polizeigewahrsam und manchmal Gerichtsverfahren. Am 20. Juni, kurz nach der Demonstration vom 16. Juni 2018 in Bar-le-Duc, wird Bure geweckt durch dem Einsatz von fast 200 Gendarmen, der Verhaftung von 8 Personen sowie der Durchsuchung von 11 Orten, an denen Menschen leben und den Kampf organisieren. Diese Verhaftungen führt zu den ersten Verhören der wegen „krimineller Vereinigung“ Angeklagten, deren Prozess in Bar-le-Duc am 1., 2. und 3. Juni 2021 stattfindet (das Urteil wird am 21. September verkündet). Das repressive Klima vor Ort mit der ständigen Präsenz der Gendarmen, den Kontrollen und den Prozessen sowie die Beschuldigung der „Kriminellen Vereinigung“ sollte den Kampf gegen Cigéo abwürgen. Trotzdem leben viele Menschen weiterhin vor Ort und setzen die Organisation von lokalen Veranstaltungen fort. Verschiedene Sabotageakte, u.a. an Bohrungen für die Umsetzung von Cigéo, folgen einander und der Bois Lejuc wurde ein drittes Mal für einige Tage besetzt (Juli 2019).

Quellen:
Aktueller Stand der Repression in Bure, September 2019 [auf französisch]
Video vom 22. Februar 2018

6) 2019 – heute

Nach den erlebten Schwierigkeiten (Repression, Trauma, …) in den Jahren 2018-2019 und während die Kontrollen und Repressionsmaßnahmen nachlassen (immer noch regelmäßige Patrouillen von Gendarmen in den verschiedenen umliegenden Dörfern – aber ohne systematische Kontrolle), bringen neue Ereignisse und Demonstrationen in und um Bure eine Menge Energien und Verbindungen hervor.
– 2019 das zweite Bure’lesques-Festival (das übrigens am 6., 7. und 8. August 2021 erneut in der Nähe von Bure stattfinden wird), Vent de Bure mit Diskussionen und einer Demo in Nancy, das Bombes Atomiques -Wochenende und seine Demo, die Aufbau-Woche im Maison de Résistance ;
– 2020 die Antiatom- und Feminismus-Woche und die Bombes Atomiques -Demo, die Antiknast-Woche im Alten Bahnhof, die Antiatom-Woche im Herbst und die Mobilisierung Nous sommes tous des malfaiteurs (2).
(2) aus der Anklage „association de malfaiteurs“ abgeleitete Devise: „Wir sind alle Mitglieder einer kriminellen Vereinigung“

Trotz aller situationsbedingter Zwänge haben die diversen Lockdowns das gegenseitige Kennen und den Zusammenhalt der GegnerInnen, die Zeit im Haus und an den anderen kollektiven Orten verbringen, eher gestärkt. Und demnächst: Les Rayonnantes!
Quellen:

Fragmente eines Lockdowns [auf französisch]
Kommuniqué zum week end des bombes atomiques [auf französisch]

7) Worum es heute geht: 2021 und das Risiko der Baubeschleunigung

Als die Andra noch keine Gemeinnützigkeitserklärung (DUP) und keine offizielle Freigabe zur Ausführung erhalten hatte, schritt das Projekt Cigéo in kleinen Schritten voran und bereitete den Boden durch eine Reihe von Vorarbeiten, wie z.B. die Säuberung und Rodung des Geländes, auf dem die künftige Bahnstrecke verlaufen wird; den Erwerb von Grundstücken durch Safer (s.o), um das Gebiet in ein Frachtterminal für Cigéo umzuwandeln; oder schließlich die unterirdischen Vermessungen durch GeometerInnen oder mittels grüner Bohrkästen (die übrigens, wie bereits erwähnt, in den letzten Jahren mehrfach Gegenstand von Sabotageakten waren…)
Auch hier leitet die Gemeinnützigkeitserklärung DUP des Cigéo-Projekts im Jahr 2020 die anstehende Beschleunigung der Arbeiten ein. Dieses Verfahren genehmigt jedoch nicht den Bau des Atomlagers selbst: Dieser wird Gegenstand des Antrags auf Genehmigung zur Errichtung der kerntechnischen Anlage sein, der bis 2022 eingereicht werden soll (mit Vorsicht zu genießendes Datum, da die Frist von der Andra regelmäßig aufgeschoben wird, angesichts der Schwierigkeiten, die Sicherheit ihres Projekts nachzuweisen). Dank der DUP konnte Andra mit den ersten Cigéo-Arbeiten beginnen, sogenannte „Vorab-Erschließungen“, d.h. die Enteignung von Land und Wohnungen, welche die Andra begehrt; die Abholzung, Freilegung und Artifizialisierung von land- und forstwirtschaftlichen Flächen wie dem Bois Lejuc, der Bau eines elektrischen Transformators; die Instandsetzung von Dutzenden Kilometern Bahngleisen für den Transport radioaktiver Abfälle; die Umleitung von Departementstraßen; der Verbrauch großer Wassermengen für die Arbeiten, welcher das Pumpen von Wasser aus 20 km entfernten Quellen erfordert; der unaufhörliche Verkehr vieler schwerer Lastwagen und Baufahrzeuge, usw.
Weit entfernt von Fatalismus und Resignation, vergessen wir nicht, dass Cigéo noch gar nicht angelaufen ist. Es hat bereits viele Verzögerungen erfahren und die uns vorliegenden Daten sind immer noch sehr unsicher. Vergessen wir nicht, dass die Geschichte dieses Projekts von Anfang an auf starkem Widerstand beruht und dass die Andra aus vielen Departements (Ain, Aisne, Maine-et-Loire, Deux-Sèvres…) vertrieben wurde. Vergessen wir nicht die zwei Todesopfer unter den Arbeitern der Andra in den Jahren 2002 und 2016, nach dem Ausheben von Stollen im Versuchslabor Bure/Saudron. Die Ursachen für den Todesfall von 2016 sind noch nicht geklärt. Vergessen wir nicht die Stellungnahme der Umweltbehörde vom Januar 2021, die heftige Kritik an dem Endlagerprojekt äußert.
Wer wird zum nächsten Opfer?
Das Cigéo-Projekt ist zerstörerisch und todbringend. Ob die DUP nun bestätigt wurde oder nicht, wir sind weiterhin entschlossen, uns diesem Projekt zu widersetzen. Es ist wichtig, gegen diese DUP zu kämpfen, ebenso wie gegen die damit einhergehenden Enteignungen und Abholzungen.

Quellen:
(En)jeux de DUP pour CIGEO [auf französisch bald ins Deutsche übersetzt]
Broschüre für Bahnanwohner [auf französisch]

Ressourcen

Webseiten:

Bureburebure und befreundete Webseiten

Broschüren:

BrochÜRE 2020 [auf französisch]
Mais vous, vous proposez quoi ? (Aber was schlagen Sie denn vor?) [auf französisch/englisch bald ins Deutsche übersetzt]
Les 12 points contre le nucléaire du collectif RadiAction (12 Punkte gegen Atomkraft) [auf französisch]
Broschure la terre est à nous (2016) (Erfahrungsberichte von Bäuerinnen und Bauern im Kampf um Bure)
Etat des lieux du foncier (2016) (Zustandsbeschreibung des Grund und Bodens – 2016)
Des convois radioactifs à nos portes ? (Radioaktive Konvois vor unserer Haustür? Ein kurzer Informationsleitfaden über die Auswirkungen der Vergrabung von Atommüll in Bure/Saudron) [auf französisch]
Über die Trainstopping-Ausstellung [auf französisch/englisch]

Filme:

Poubelle la vie (2015, Automedia, 57 min) [mit englischen Untertiteln]
Bure ou les ruines toxiques de la modernité (2016, 23 min) [mit deutschen Untertiteln]
Bure été 2016-2017 (Videomontage, 2017, 24 Minuten) [mit deutschen Untertiteln]

Radio:

écoute sonore Radio Parleur Hörpräsentation lokaler Kontext (24min, Nov. 2019) [auf französisch]

Comics und Bücher:

• Der Comic “ 100 000 ans „, Ed. Marabulle, 2020
• „Le nucléaire c’est fini „, La parisienne libérée, 2019